Missverständnisse: Das ist Introversion NICHT

Manchmal scheint Introversion ein regelrechter Magnet für Missverständnisse zu sein. Vielleicht hast du von Freunden auch schon mal diese Sätze gehört, wenn du über deine Introvertiertheit geredet hast:

  1. „Früher war ich auch total introvertiert, aber heute bin ich viel extrovertierter.“
  2. „Also ich bin mal introvertiert und mal extrovertiert, je nach Situation.“
  3. „Wieso introvertiert, du hast doch immer voll Spaß mit uns?“

Was deine Mitmenschen damit im Regelfall eigentlich aussagen, ist Folgendes:

  1. Früher war ich total schüchtern, aber heute kann ich ohne Probleme mit Menschen reden.
  2. Es gibt Menschen und Situationen, in denen ich mich wohl- und welche, in denen ich mich nicht so wohlfühle.
  3. Wieso magst du keine Menschen, du hast doch immer voll Spaß mit uns?

Lass uns diese Missverständnisse mal genauer einordnen.

3 typische Missverständnisse

1. Introversion bedeutet, dass du schüchtern und zurückhaltend bist

Schüchterne Menschen gibt es viele auf der Welt. Tatsächlich gehört der Großteil der Schüchternen zum introvertierten Persönlichkeitstyp. 

Das ist auch ganz logisch begründbar: Als Introvertierte tankst du deine Energie aus dem Alleinsein und ziehst dich schon als Kind lieber mehr zurück als dass du mit Gleichaltrigen spielst (sofern das deine Eltern zulassen). Dementsprechend bist du möglicherweise nicht so gut mit der Gruppendynamik und sozialen Interaktionen vertraut wie Extrovertierte, die bereits als Kinder vor allem das Miteinander suchen.

Dass so viele Intros schüchtern sind, liegt außerdem daran, dass unsere Gesellschaft stark extrovertiert geprägt ist und aus Alleinsein und Stille etwas Negatives macht. Viele Intros wachsen schon mit dem Gefühl auf, dass etwas mit ihnen nicht stimmt und sie eigentlich anders sein müssten. Sowas schüchtert ein!

Missverständnis – Introversion und Schüchternheit ist KEINE Gleichung!

Aber: Du kannst der selbstbewussteste Mensch auf diesem Planeten und trotzdem introvertiert sein. Deine Introversion zeichnet sich einfach dadurch aus, dass du gerne alleine bist und das auch brauchst, um dich gut zu fühlen. Genauso können extrovertierte Menschen schüchtern sein. Wenn du dich fragst, wie sowas konkret aussieht: Wenn ein (Achtung, Klischee!) extrovertiertes Partygirl sich nicht traut, ihren Schwarm anzusprechen, ist das Schüchternheit.

Jemand, der also den Satz äußert „Früher war ich total introvertiert, aber heute bin ich extrovertiert“, meint ganz oft eigentlich „Früher war ich total schüchtern, aber heute kann ich ohne Probleme mit Menschen reden“. Die Chance, dass derjenige ein introvertierter Persönlichkeitstyp ist, der einfach ein gesundes Selbstbewusstsein entwickelt hat, ist deutlich höher, als dass er plötzlich eine 360 Grad Wandlung in puncto Persönlichkeit durchgemacht hat.

Missverständnis über Inrroversion | Still Verwurzelt

2. Introversion ist situationsabhängig

Hier liegt eines der größten Missverständnisse! Introversion ist kein Kostüm, das du dir je nach Situation an- oder ausziehen kannst. Es ist auch kein Enzym, das sich je nach Bedarf selbst aktiviert. Introversion ist ein Persönlichkeitsmerkmal, das in deiner DNA festgelegt ist.

What?? Klingt überraschend? Ist aber – Studien zufolge – tatsächlich so. Ob du Intro oder Extro bist, ist in deinen Genen festgeschrieben. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass Extrovertierte ein sehr aktives Dopamin-System besitzen. Bedeutet, sie reagieren viel stärker auf äußere Reize, die als Belohnung interpretiert werden. Tatsächlich ist das auch in der DNA auszumachen, nicht nur in den betreffenden Gehirnarealen: Extrovertierte besitzen ein Gen, das die Reaktion auf Dopamin verstärkt. Während Extros sich also richtig „pumped“ fühlen, läuft das bei Intros quasi auf eine Überproduktion heraus – sie haben diesen Verstärker nicht, zu viel Dopamin laugt sie aus. (Andere Blogs wie Geist und Gegenwart, Wie sie liebt und Introvert Dear greifen die relevanten Studien ebenso auf.)

Man könnte also sagen, dass Introversion – Extroversion ein Merkmal deiner DNA ist, das bestimmt, wie dein Energiehaushalt auf externe Reize reagiert. 

Es liegt in den Genen

Wie konkret sich diese Merkmale letztendlich äußern, liegt an den äußeren Umständen, in denen du aufwächst und darin, welche Erfahrungen du als Kind und innerhalb der Gesellschaft machst. Ein Intro, der genau weiß, wie er mit seiner Energie haushalten muss, im Vorhinein schon abschätzen kann, wann zu viel zu viel ist, und sein Sozialleben danach taktet, wird wahrscheinlich kaum von jemandem als wirklich introvertiert wahrgenommen werden.

Was steckt nun konkret hinter der Aussage Nr. 2 vom Anfang? Wenn dir jemand sagt „Ich bin mal introvertiert und mal extrovertiert, je nach Situation“, ist das eines der typischen Missverständnisse, denn oft meint er eigentlich „Es gibt Menschen und Situationen, in denen ich mich wohl- und welche, in denen ich mich nicht so wohlfühle.“

Dieser Sachverhalt hat erstmal nichts mit dem Persönlichkeitsmerkmal Introversion oder Extroversion zu tun. Allenfalls könnte man noch sagen, diejenige Person VERHÄLT sich extrovertiert – sie IST es aber nicht. Es liegt an den Energien, die dein Umfeld aussendet: Intros können es sehr genießen, wenn sie mit den richtigen Menschen zusammen sind. Ihr Energiehaushalt wird dann nicht so in Anspruch genommen. 

Im Gegenzug möchten natürlich auch Extros manchmal bestimmten sozialen Situationen gerne entfliehen. Augenscheinlich verhält sich der Extro dann introvertiert. Seine DNA hat sich dadurch aber natürlich nicht geändert.

3. Introvertiert sein bedeutet, unsozial zu sein

Bestimmt kennst du solche Personen auch: Der laute, cholerische Chef, der sich über alles und jeden beschwert und der Meinung ist, nur von Inkompetenz umgeben zu sein, ist fast schon ein Archetyp. Derjenige, der kein freundliches Wort für irgendwen hat und niemals an sozialen Zusammenkünften einfach nur aus Spaß an der Freunde teilnehmen würde.

Ja, so eine Person ist unsozial. Und tatsächlich ziemlich extrovertiert! Denn dieser Mensch bekommt auch Energie aus dem Miteinander. Auf eine ziemlich ungesunde Art und Weise zwar, aber er bekommt sie. Zu Hause in seinem stillen Kämmerlein würde er eingehen, da er dort niemanden hat, den er anmeckern kann.

Unsoziale Introvertierte gibt es natürlich auch – aber die sind gar nicht so oft, wie manch einer denken mag. Meistens steckt hinter der scheinbaren Unsozialheit einfach nur ein Intro, der sehr bewusst mit seiner Energie haushaltet und sich deshalb nicht mit jedem trifft, sondern nur mit einem ausgewählten Freundeskreis. Mit diesen trifft er sich vielleicht 3x im Monat, um am Wochenende gemeinsam auszugehen und Spaß zu haben – absolut kein Widerspruch. Ich empfehle dir zum Thema „Freunde & Introversion“ die Podcast-Folgen von Verena (Wominess Podcast) und Julia (Wunderbar Introvertiert).

Wenn dir also jemand sagt „Wieso introvertiert, du hast doch immer voll Spaß mit uns?“ setzt er Introversion mit „Du magst keine Menschen“ gleich. Eines der klassischen Missverständnisse.

Kann man also wirklich nicht Extro und Intro gleichzeitig sein?

Jein. Eigentlich tendiert man immer zur einen oder anderen Art und Weise der Energiegewinnung – entweder auf die extrovertierte oder auf die introvertierte Art. Dennoch gibt es Persönlichkeitstypen, bei denen man von „Ambiversion“ spricht: einem Zwischending zwischen extrovertiert und introvertiert.

Am besten stellt man sich dazu Introversion und Extroversion auf einer Skala vor. Sehr stark introvertiert sind Menschen, die wirklich ihren Großteil der Zeit am liebsten alleine verbringen, da schon kleine soziale Interaktionen sie auslaugen. Sehr stark extrovertiert sind Menschen, die sich am allerbesten fühlen, wenn sie 24/7 mit anderen Menschen zusammen und in irgendeiner Form aktiv sind. Im Schaubild siehst du diesen Sachverhalt verdeutlicht.

Diagramm_ambivertiert_stillverwurzelt

Je mehr die Energieskala eines Intros an die Mitte kommt, desto weniger Zeit braucht er zum Erholen und Auftanken und desto mehr externe Stimulation kann er ertragen und mag er. Je mehr ein Extro sich der Mitte nähert, desto weniger externe Stimulation braucht er, um sich energetisiert zu fühlen. Er kann dann auch ganz gut alleine sein. Befindet sich ein Persönlichkeitstyp in diesem kleinen mittleren Bereich, kann man ihn als ambivertiert bezeichnen.

50 % Intro / 50 % Extro nach C. G. Jung

Eine haargenaue 50-50 Verteilung ist wahrscheinlich eher selten – wenn auch durchaus möglich. Für alle anderen Fälle betrachten wir einmal die Persönlichkeitstheorie, die auf Jung, Myers und Briggs beruht. (Wenn dir das nichts sagt, habe ich die Theorie hier einmal easy für dich aufbereitet. Es lohnt sich wirklich, sich das einmal anzuschauen!)

Als introvertiertester Extrovertierter gilt in der Community oft der ENTP, während als extrovertiertester Introvertierter meistens der ISFJ genannt wird. Auch das variiert natürlich je nach Individuum. Letzteres sehe ich zum Beispiel an meiner Mutter (hallo Mama!), die es liebt, schöne Dinge mit ihrer Familie zu unternehmen und dazwischen nicht allzu viel Zeit zum Auftanken braucht. Ein ENTP-Typ könnte etwa ein Autor sein, der gut und gerne ewig alleine an seinen Werken schreibt, dann aber doch mal raus muss, um durch gute, lautstarke Diskussionen oder Unternehmungen seine Energien wieder aufzuladen. Bei beiden Typen dominiert aber trotzdem entweder die introvertierte oder extrovertierte Art der Energiegewinnung, nur macht sich dies auf einem viel schwächeren Level bemerkbar.

Als introvertiertester Persönlichkeitstyp wird oft der INTP angeführt, dem man nachsagt, dass er sich durchaus auch mal Jahre nicht bei seinen Freunden meldet, nur um dann 1-2 Treffen einzuplanen – und dann wieder ein Jahr Pause macht. Ein ESFP wiederum kann gar nicht genug von Freunden bekommen und hat scheinbar unendliche Energiereserven – möglicherweise der extrovertierteste Persönlichkeitstyp.

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4 Kommentare zu „Missverständnisse: Das ist Introversion NICHT“

  1. Hallo Anja,

    sehr gelungener Artikel! Am besten gefällt mir vor allem der letzte Part, weil ich mich selbst darin wiedergefunden habe. Ich mag es zwar gerne, Menschen um mich zu haben und bin auch gerne unterwegs, aber manchmal habe ich dann schon das Gefühl, dass mein „Speicher“ dadurch auch schnell leer wird. Vielleicht bin ich ja auch so ein „Mitteltyp“ wie dein Beispiel vom Autor (um ehrlich zu sein, finde ich mich da sogar sehr gut wieder … Ich arbeite gerne „stillen Kämmerlein“ oder „Tunnel“, aber danach muss ich auch dringend in die „richtige“ Welt, um das wieder zu auszugleichen).

    Herzlich, Sabrina

    1. Vielen Dank für deinen Kommentar, liebe Sabrina! Es kommt natürlich auch immer drauf an, mit wem du zusammen bist und welche Energien diese Personen aussenden. Manche Extrovertierte finden „normale“ Zusammenkünfte auch einfach wenig energetisierend, die brauchen Action und Abenteuer oder Partys nonstop. Das variiert natürlich auch enorm. Abe ja – ich könnte mir bei dir auch sehr gut vorstellen, dass du eher an der Mitte angesiedelt bist. 🙂

      Liebe Grüße!!

  2. Das mit der Ambiversion ist wirklich interessant, das kannte ich noch nicht! Ich gehöre definitiv zu den seeeehr introvertierten Menschen xD Schüchterner war ich früher tatsächlich. Vor allen Dingen in der Schule. Das war teilweise richtig schlimm. Im Studium habe ich das etwas überwunden, weil ich da gleichgesinnte gefunden habe und mich nicht mehr so „Alien-haft“ gefühlt habe. Deswegen: schüchtern nicht mehr so sehr, aber definitiv sehr introvertiert! Mittlerweile akzeptiere ich diese Eigenschaft auch voll und ganz an mir – früher habe ich immer ganz naiv versucht, aus mir „heraus zu kommen“ 😀

    1. Danke für deinen Kommentar! 🙂 Super schön, dass du dich gefunden hast und eine Introversion mittlerweile genießen kannst! Ich war früher auch sehr schüchtern, kann das also echt gut nachvollziehen. Ambiversion ist ein spannendes Thema und es betrifft tatsächlich auch relativ viele (zwar nicht unbedingt die Zielgruppe meines Blogs, aber trotzdem wird da sicher noch mehr Content zu kommen). Liebe Grüße!

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